[ PORTRÄTS ]
USA // Journalistin, Autorin, Weinaktivistin
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Begegnung mit Alice Feiring
"Naturwein ist auf dem Vormarsch, das ist keine Modeerscheinung."
Seit fast 30 Jahren schreibt sie für die wichtigsten amerikanischen Zeitungen, die New York Times, die Los Angeles Times oder das Time Magazine, über Wein und Winzer, Terroirs und Rebsorten. Alice Feiring, Geschichtenerzählerin und Aktivistin, wurde mit dem James Beard Award und dem Verdienstorden „Chevalier de l'ordre du mérite agricole“ ausgezeichnet. Sie setzt sich für natürliche Weine ein, die ohne Einsatz von Hilfsmitteln und Zusatzstoffen auskommen und die Traube unverstellt zum Ausdruck bringen.
Anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Buches To fall in love, drink this, spricht sie über den idealen Weinkeller, Lagerweine und Nina Simone.
Welche erste einschneidende Erinnerung haben Sie an einen Weinkeller?
ALICE FEIRING
Als sich meine Eltern Anfang der 80er Jahre trennten, zog mein Vater mit seiner neuen Freundin Phyllis in die Wohnung ihres früheren Ehemanns Arthur, eines großen Weinliebhabers. Als ich einmal meinen Vater besuchte, ging ich in Arthurs Keller, der selbst für mich, die ich nur 1,50 m groß bin, sehr niedrige Decken hatte, staubig war und in dem es viel zu heiß war. Ich sah nichts Interessantes, bis ich auf eine Flasche Giovanni Scanavino stieß, einen Barolo aus dem Jahrgang 1968. Trotz der schlechten Lagerbedingungen war er wunderbar, das war meine erste echte Begeisterung für einen Barolo, die mich mein ganzes Leben lang begleiten wird.
Sie haben ein Buch über die Weinkeller von Hobby-Weinsammlern geschrieben, was haben Sie daraus gelernt?
ALICE FEIRING
Dieses Buch war ein Auftragswerk, aber wegen der vielen Begegnungen, die ich hatte, war es spannend, zu schreiben. Ich habe zum Beispiel Nancy und John Lasseter, die Gründer von Pixar, Ryan Seacrest, Moderator der Fernsehshow „American Idol“, oder Rick Ryan, einen Unternehmer, kennengelernt. Sie alle hatten sich prunkvolle Weinkeller ausgedacht, viel Geld in römische Tempel und Weinkathedralen gesteckt. Im Großen und Ganzen habe ich verstanden, dass es dabei viel um das eigene Ego geht.
Einen Wein unter den 300 Flaschen bei mir zu Hause zu finden, kann schon schwierig sein, aber ich weiß genau, was ich habe, und ich freue mich auch immer, einen Wein wiederzuentdecken, den ich aus den Augen verloren habe.
Und wie sieht Ihr eigener Weinkeller aus?
ALICE FEIRING
Ich lebe im obersten Stockwerk eines New Yorker Gebäudes. Ich bin sehr unorganisiert, chaotisch, ich habe ungefähr 300 Flaschen, die ich überall unterbringe, wo ich kann! Einen Wein zu finden, kann schon schwierig sein, aber ich weiß genau, was ich habe, und ich freue mich auch immer, einen Wein wiederzuentdecken, den ich aus den Augen verloren habe. Wäre ich Beraterin für den Aufbau von Weinkellern, würde ich sagen: „Tun Sie, was ich sage, aber nicht, was ich tue“ (Lächeln).
Wie sollte der ideale Weinkeller aussehen?
ALICE FEIRING
Man müsste einen Keller für Weine haben, die sofort trinkreif sind, einen anderen für Lagerweine und einen für Weine dazwischen. Man müsste auch die Weiß-, Schaum- und Rotweine getrennt aufbewahren, sowie die Orange-Weine, die ich so liebe. Und innerhalb dieser einzelnen Bereiche könnte man nach Ländern und dann nach Regionen sortieren.
Naturweine voller Tannine, die den Wein schützen, wie es Schwefel tun würde, haben ein großes Lagerpotenzial.
Was Lagerweine anbelangt, wird oft gesagt, dass natürliche Weine, für die Sie sich stark machen, nicht gut altern. Stimmt das?
ALICE FEIRING
Absolut nicht! Es gibt „Spaßweine“ unter den Naturweinen, die dafür gemacht sind, schnell getrunken zu werden, aber gehen Sie zum Beispiel ins Châteaubriand (Restaurant des Chefkochs Inaki Aizpitarte, Paris 11. Arrondissement), nach Dänemark oder Japan, dort finden Sie sehr alte Jahrgänge von Naturweinen. Die Weine eines Weinguts wie La Stoppa in Italien, die einer langen Maischegärung und einer langen Lagerung im Keller unterzogen werden, sind für die Ewigkeit gemacht. In der Regel haben Naturweine voller Tannine, die den Wein schützen, wie es Schwefel tun würde, ein großes Lagerpotenzial. Ich habe kürzlich einen „simplen“ Pinot Noir von Fred Cossard, Jahrgang 2000, getrunken, also einen noch sehr jungen Wein. Die Weine der Haquet-Schwestern, Pionierinnen des Naturweins im Anjou, konnten sehr lange getrunken werden. Dasselbe gilt für Weine von Sébastien Dervieux, genannt „Babass“, der einige ihrer Weinberge übernommen hat, oder für die Weine des Château Musar im Libanon, von denen ich einige Jahrgänge vor 1966 getrunken habe, die bis dato ohne Schwefel vinifiziert worden waren. Wenn der Wein gut strukturiert und ausgewogen ist, kann er altern.
Aber woher soll man all das wissen, wenn man nicht über Ihre Weinkultur verfügt?
ALICE FEIRING
Man muss sich informieren, viel lesen, mit seinem Weinhändler sprechen. Man muss die Winzer besuchen, Wein verkosten und seinen Gaumen trainieren.
Sind Sie optimistisch, was den Platz von Naturweinen anbelangt?
ALICE FEIRING
Ich bin von Natur aus pessimistisch, ich denke, dass alles eine Katastrophe ist (Lachen). Aber ernsthaft, Naturwein ist auf dem Vormarsch, das ist keine Modeerscheinung. Allerdings müssen die Winzer vom Staat unterstützt werden, damit sie existieren können und damit Wein erschwinglich ist, nicht wie dieses Bund Senfblätter, das ich für 8 Dollar in New York kaufe. Man muss Essen oder Trinken anders einkaufen können als beispielsweise eine Halskette bei einem Juwelier.
Ich wäre fast die Assistentin von Nina Simone geworden, nachdem ich ihr einen Chenin von der Domaine Huet in der Loire mitgebracht hatte.
Wie ist es zu Ihrem neuesten Buch gekommen?
ALICE FEIRING
Während des Lockdowns habe ich mich bei mir zu Hause verschanzt. Mein Freund, der ein bisschen hypochondrisch veranlagt ist, saß am anderen Ende von Manhattan. Ich habe viel Wein gekauft und allein getrunken. Ich begann, für eine Zeitschrift über das Thema zu schreiben, und mein Agent rief mich an, um einen Essay über Wein zu bestellen. Ich dachte, dass das niemand lesen würde, also kam mir die Idee, meine Erinnerungen als Vorwand zu nehmen, um über Wein zu sprechen und mich in die Köpfe der Leute einzuschmuggeln. Daraus wurden 15 Kapitel, in denen ich über Auferstehung nach einem Besuch in Auschwitz-Birkenau spreche, von einem ehemaligen Musiker erzähle, der einen Schlaganfall bekam und durch das Schneiden von Weinstöcken geheilt wurde, oder davon, wie ich fast die Assistentin von Nina Simone geworden wäre, nachdem ich ihr einen Chenin von der Domaine Huet in der Loire mitgebracht hatte.
Ich empfinde kein Gefühl des Stolzes. Aber ich bin glücklich, wenn ich das Gefühl habe, etwas bewirkt zu haben.
Worauf sind Sie aktuell in Ihrem Leben am meisten stolz?
ALICE FEIRING
Ich empfinde kein Gefühl des Stolzes. Aber ich bin glücklich, wenn ich das Gefühl habe, etwas bewirkt zu haben. Einmal erzählte mir ein alter Weinliebhaber, der in seinem Keller nur große konventioneller Weine hatte, dass er nach der Lektüre meines ersten Buches Naked Wine seine gesamten Weine verschenkt oder verkauft habe, um nur noch natürlichen Wein zu kaufen. Da habe ich klar meinen Teil geleistet.
Gastro-Journalist - Stéphane Méjanès
Der ehemalige Sportjournalist Stéphane Méjanès berichtet seit 2012 für verschiedene Magazine, Zeitschriften und Websites über die Gastronomie in all ihren Facetten. Er ist Autor eines Pamphlets über Gastrokritik, „Tailler une plume“ (Éditions de l'Épure, 2019), sowie mehrerer Bücher von Küchenchefs. Er arbeitet außerdem als Dozent an der Hochschule für Hotellerie und Tourismus ESTHUA in Angers, wo er einen Kurs über Restaurantkritik für Master 2-Studenten anbietet. Zusammen mit Guillaume Gomez und Tiptoque ist er Initiator der Bewegung „Les Chefs avec les Soignants“ (etwa: Chefköche für das Pflegepersonal) und wurde dafür mit dem Solidaritätspreis La Liste 2021 ausgezeichnet. Für seine persönlichen Arbeiten wurde er 2019 mit dem Journalistenpreis „La plume d’or“ ausgezeichnet und 2018 erhielt er den Preis Amunategui-Curnonsky, der Journalisten verliehen wird, die sich in besonderer Weise um den Ruf der französischen Kochkunst verdient machen.
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